15. Januar 2018

160 Tage

Ich bin an dem Punkt, an dem ich nicht mehr weiß, wo ich die Erzählung beginnen soll. Nicht nur hier, sondern auch wenn ich mit Freunden und Familie daheim kommuniziere. Wie geht es dir Elske, was erlebst du so? Gut, denke ich dann. Viel! Aber alles wird so schnell derart alltäglich, dass ich zögere, ob es einer Erwähnung wert ist. Der Winter ist lang und es gibt zahllose Nachmittage an denen Serien durchgesuchtet werden und man müde wieder an die Arbeit geht, weil man das Haus nicht mehr freiwillig verlässt und die Motivation mit der untergehenden Sonne kraftlos auf den Schultern hängt. Ich fühle mich durchweg wohl und zu Hause in meiner Gastfamilie, aber die kalten Tage lassen uns alle schwerer atmen. Ich arbeite viel und gerne, habe meinen nächsten Urlaub für Ende März gebucht und darf mich immer wieder über Post von zu Hause und Wochenenden mit Michèle freuen. Die weltpolitischen Zustände bringen mich währenddessen um den Verstand und Pierce (12) und ich lesen abends bis spät zusammen in der Times und kriegen gemeinsam Anfälle und Sorgenfalten.
Nächsten Mittwoch starte ich mit Philosophie am College - ich bin nervös und freue mich sehr! Neue Menschen, neue Nahrung für den Kopf, neues im Alltag.

Und doch: 2018 fühlt sich unecht und noch immer weit entfernt an.
Gehen wir ein paar Monate zurück.

Oktober.
Ein Mädchen ist mir auf dem Weg zu ihrem Schulball hinten aufgefahren. Ich hatte ein harmloses Schleudertrauma und zwei Wochen später ein neues Auto. Und Angst, je wieder links abzubiegen.
Wir hatten ein Kürbisfest, Halloween, die letzten Tage mit Roksana, die danach zu einer neuen Familie nach New Jersey gezogen ist. Freizeitpark, lange Nachmittage in Madam Zuzus Teahouse und Unmengen Spekulatius.


November.
Der erste Schnee und ein neuer Boden liegt im Haus. Es kommt Besuch aus der Heimat (Yannic, der zeitgleich mit mir Praktikant beim NEO Magazin Royale war). Päckchen mit Plätzchen von zu Hause und ob des verkürzten Tageslichts mehr Lichterketten im Zimmer
Thanksgiving habe ich in Seattle verbracht, dort eine wunderschöne Stadt und eine herzensgute Familie kennen gelernt.


Dezember.
Erkältung und Grippe gehen um, in Chicago gibt es einen German Christkindlmarket mit heißem Glühwein und kalten Füßen. Wir kaufen einen Tannenbaum, schmücken das ganze Haus. Feiern Hannukah und pompöse Weihnachten. Zweimal feiere ich in 2018 rein. Und sonst? Kälte aushalten, Dunkelheit, Wochenlange Minusgrade und Schnee.


Januar.
Jule, meine Schulfreundin muss auf ihrem Weg nach NYC wegen eines Schneesturms in Chicago zwischenlanden und übernachtet - spontaner und schöner gehts nicht - eine Nacht bei mir. Es ist sehr surreal, ein so bekanntes Gesicht aus der Heimat hier zu haben. Michèle schneidet meine Haare ab und ich ihre. Es ist immer noch unfassbar kalt und ich warte sehnsüchtig auf warmes Gras, rauschende Nachmittage am Strand, lange Spaziergänge, Auto fahren mit herunter gelassenem Fenster.