26. November 2017

Seattle [Nov 18-24]

Am Samstag fährt der Zug gegen Nachmittag in Chicago los. Ich sitze in meiner kleinen 2m² Kabine und atme schneller. 46 Stunden Fahrt liegen vor mir, durch Wisconsin, Minnesota, North Dakota, Montana und Washington bis nach Seattle, wo ich Thanksgiving verbringen werde.

Das (Amtrak) Zugsystem in den USA ist eingeschränkt und kostspielig aber Chicago ist ein zentraler Knotenpunkt und ich gönne mir die Fahrt, weil ich nicht nur die Natur im nördlichen Midwest sehen, sondern vor allem die tatsächliche Distanz spüren möchte. Wenn ich in Deutschland in einen Zug steige und zwei Tage lang fahre, wie weit komme ich dann? Nach Zagreb dauert es neun Stunden, nach Budapest elf... Achtundvierzig! Dieses Land ist gigantisch.
Gigantisch und wunderschön. Ich sitze vor meinem Fenster und bin sprachlos ob all der Kulissen die an mir vorbeiziehen. Als es dunkel wird, beginne ich ein Buch, das meine Mama mir im August mit auf die Reise gegeben hat und für das ich auf den richigen Zeitpunkt gewartet hatte.

 

Sonntagmorgen wache ich im Licht der aufgehenden Sonne über der Weite Montanas auf. Es ist wunderschön.
Die Mahlzeiten im Speisewagen sind gut und man lernt jedes Mal neue Mitreisende kennen. Das Personal ist sehr freundlich, und als ich Meredith und John Sonntagabend beim Abendbrot kennenlerne und wir und bis neun unterhalten, kommt irgendwann das ganze Personal dazu, erzählt vom Leben im Zug und wunderbaren Insidern an Bord. Ich hätte eine ganze Woche durchfahren können, so gut hat es mir gefallen, und ich hoffe sehr, bald wieder die Möglichkeit dazu zu haben!

Montag komme ich, ausgeschlafen und glücklich, in Seattle an. Es ist der einzige Tag ohne Regen, danach erfüllt die Stadt jedes Vorurteil über ihr Wetter (Grey's Anatomy übertreibt, zumindest was das angeht, nicht). Nichtsdestotrotz liebe ich sie ab dem ersten Moment. Seattle ist ein bisschen jünger, wilder, hipper als Chicago. Überall hängen Pride-Flags; Shops und Restaurants sind alternativer, ich sehe zahllose Thrift Shops, alte Buchläden, Katzencafés. Starbucks, natürlich, da es hier gegründet wurde.
Pike Place Market, Capitol Hill, Pioneer Square, Downtown. In den fünf Tagen erkunde ich das Zentrum der Stadt zu Fuß und werde wegen meines Regenschirmes sofort als Touristin enttarnt. Ich besuche das Seattle Art Museum (mit Beuys' Filzanzug!), Museum of Pop Culture (Bowies Kostüme, Cobains Gitarre, einer Muppet Ausstellung) und den Pacific Science Center (inklusive Planetarium) und laufe staunend durch die unerwartet hügeligen Straßen, begeistert von der Schönheit der Stadt und des kulturellen Angebots.

 
 

Die Woche verbringe ich in einer Familie mit vier Kindern, die auch ein Au Pair haben. Sie sind haltlos herzlich und ich bin unendlich dankbar, hier mit ihnen ganz traditionell Thanksgiving feiern zu dürfen. Donnerstagmorgen stehe ich auf und der Truthahn ist schon im Ofen. Ich helfe den ganzen Tag in der Küche und am Nachmittag ist das Festmahl mit Süßkartoffelpürree mit Pekannüssen, Bohnenauflauf, Stuffing, diversen Salaten, Kirschsoße, saftigem (!) Truthahnfleisch und vielem vielem mehr angerichtet. Kugelrund gibt es zwei Stunden später fünf verschiedene Kuchen und Pies, dazu Früchte und Beeren und ich hänge am Ende des Tages sehr glücklich und müde in den Kissen des Sofas und schaue dem Feuer im Kamin beim Knistern zu.

 

Am Freitagabend sitze ich im Flugzeug und fliege in die Nacht hinein. Die Frau neben mir packt einen Snack nach dem anderen aus und ich bin noch einmal mehr froh, auf der Zugfahrt keine schmatzenden Menschen in meiner kleinen Kabine gehabt zu haben. Drei Stunden halte ich das halbwegs aus, aber nicht zwei Tage lang-
Ich beende das Buch, das mir meine Mama mitgegeben hatte und schaue hinab in die leuchtenden Städte. Ich denke, wie weit dieses Land ist, und wie wunderschön. Voller Filmkulissen. Nur seine Bewohner scheinen manchmal zu vergessen, dass man manche Szenen nicht herausschneiden kann.